Zugang zu Innovationen für alle- ja, aber wie?

Soll der Zugang zu Innovationen für alle gelten, fragt sich Ulrich Hemel, denn: Innovationen spielen im Gesundheitswesen eine bedeutende Rolle, denn der Kampf gegen Krankheit und Leid ermutigt Millionen von Menschen, ihre Leistungskraft in den Dienst der medizinischen, pflegerischen, medizintechnischen, diagnostischen und pharmazeutischen Forschung zu stellen. Im Blick zurück fällt es leicht, etwa die Entdeckung des Penicillins durch Fleming als Durchbruchsinnovation zu identifizieren. Umgekehrt ist es fast unmöglich, aus der Fülle der vorliegenden, halb fertigen oder bereits anfänglich erprobten Innovationsangebote die Durchbruchsinnovation der Zukunft herauszufiltern- denn dazu werden u.a. Langzeitstudien benötigt, die vom Prinzip her Zeit brauchen.

Für jedes Gesundheitssystem stellt sich hier ein Dilemma. Wird zugewartet, bis nach vielleicht 10 Jahren Langzeitstudien zu einer wesentlichen Innovation vorliegen, versagt man bedürftigen Patienten den Nutzen dieser Innovation. Spricht man voreilig Leistungszusagen aus, kann es zu unerwarteten Nebenwirkungen, aber auch zur Förderung wenig sinnvoller Ansätze kommen, deren mangelndes Leistungsvermögen sich erst nach einiger Zeit herausstellt. Der Zugang zu Innovationen ist daher eine der vertracktesten Fragen im Gesundheitswesen, das eh schon reich an Herausforderungen ist.

Leitgedanke: Phasengestützte Intervention statt Alles-oder-nichts-Prinzip

Um das Thema griffiger zu gestalten, möchte ich gerne das Beispiel der Telemedizin aufgreifen. Es handelt sich hier um einen der am schnellsten wachsenden Bereiche im Gesundheitswesen.

Der Grundgedanke ist einfach: Wenn es gelingt, über moderne Medien der Information und Kommunikation den Gesundheitszustand von Patienten dezentral zu überwachen, minimieren wir die Gefahr plötzlicher Gesundheitskrisen und vermindern die Zeit bis zum Eingreifen von qualifiziertem Personal.

Ob es um den Herzkranken oder den Diabetiker geht, der – in der ersten Phase- über ein Notruftelefon mit einer Zentrale verbunden ist, die gezielt handeln kann oder ob es – schon moderner- um Körperfunktionen geht, die über Mobiltelefonie relevante Daten an Auswertungs- und Überwachungszentren übermitteln, die ihre Schlüsse ziehen, spielt hier gar keine Rolle.

Die Frage ist vielmehr, was muss und soll ein Gesundheitssystem im Blick auf Innovationen leisten?

Ist es gerechtfertigt, die aufwändigen Kosten für die telemedizinische Infrastruktur auf die Zahl der überwachten Patienten umzulegen und über das allgemeine Gesundheitssystem zu finanzieren? Was passiert mit den zahlreichen Fällen einer Intervention, durch die Schlimmeres abgewendet werden kann? Das Besondere an diesen Fällen ist es ja, dass sie gewissermaßen präventiv wirken und z.B. auf die Erhöhung bestimmter Körperparameter reagieren, bevor es zu einem „Schadensfall“ wie einem Herzinfarkt oder einem Unterzuckerungsschock kommt. Wo ist die Grenze der erstattungswürdigen Prävention? Oder sollen solche hypermodernen Systeme nur denen zugute kommen, die sich diese aus der eigenen Tasche heraus leisten können?

Bisher ist es so, dass Innovationen hohe Hürden durchlaufen müssen, bis es zu einer Kostenerstattung im Gesundheitswesen kommt. Je nach politischem Geschick der Anbieter ist dies im Innovationszyklus früher oder später der Fall und führt zu schwer kalkulierbaren Kosten für die Krankenkassen.

Ein solches Alles-oder-nichts-Prinzip der Innovationsfinanzierung im Gesundheitswesen stößt in der heutigen Zeit an seine Grenzen- nicht nur wegen der Kosten, sondern auch wegen der Komplexität, die Zeit und Erfahrung erfordert, um den Wert von Innovationen einigermaßen zuverlässig beurteilen zu können.

Eine solche Situation spricht für eine politische Verfahrensinnovation, die sich aus anderen Gebieten übertragen lässt. Es geht um eine stufenweise Einführung von Innovationen im Sinn eines Verfahrens, das es erlaubt, genau diejenigen Erfahrungen zu sammeln, die für eine präzisere Beurteilung zur flächendeckenden Einführung und Erstattung von Bedeutung sind. Nehmen wir das Beispiel der telemedizinischen Überwachung: Statt einer bundesweiten Regelung wäre es möglich, Pilotregionen für einen Modellversuch zu definieren, so dass etwas in einem Bundesland die telemedizinische Überwachung von Herzpatienten, in einem anderen das Telemonitoring von Diabetikern zur Erprobung käme.

Voraussetzung dafür ist freilich eine sorgfältige Planung des Modellversuchs mit den entsprechenden unabhängigen Bewertungen, Meilensteinen und Auswertungskriterien finanzieller und medizinischer Art, die vorab festzulegen wären. Möglicherweise ließen sich sogar zwei unterschiedliche Verfahren über einen begrenzten Zeitraum von 2-5 Jahren vergleichen, um zu Schlüssen über das relativ bessere von beiden zu gelangen. Auf Patientenseite ist es wesentlich, dass die Teilnahme an definierten Pilotprojekten strikt dem Prinzip der Freiwilligkeit gehorcht. Umgekehrt ist es nur fair, Interessenten für solche Pilotprojekte die Möglichkeit zu geben, sich schon vorab für die Teilnahme registrieren zu lassen.

Kernkriterien: Gesundheitswirtschaftliches Risiko- und Chancenmanagement

Grundlage einer solchen Idee ist der Gedanke eines Risiko- und Chancenmanagements im Gesundheitswesen. Schließlich ist jedes Handeln und Unterlassen, gerade beim Umgang mit kranken oder jedenfalls gesundheitlich beeinträchtigten Menschen, ein stetes Abwägen von Chance und Risiko.

Würde eine sehr teure Innovation dem Kostenblock des allgemeinen Gesundheitssystems aufgebürdet, blieben bei Gleichheit des Mittelaufkommens andere Prioritäten auf der Strecke. Es ist daher eine erste, gesundheitspolitische Entscheidung, den Krankenkassen und Kostenträgern eine Budgetempfehlung für denjenigen Anteil ihrer Mittel zu geben, den sie für Innovationen- auch im Sinn von Innovations-Pilotprojekten- verwenden sollen und können.

Dies wird zu Diskussionen, aber auch zu sorgfältigen Auswahlkriterien führen. Dürfen nämlich Krankenkassen und Regionen (etwa im Sinn regionaler Gesundheitsparlamente) ihre eigenen Schwerpunkte auch im Bereich der Innovation setzen, dann entsteht- systemisch gesehen- ein höheres Maß an Erkenntnis über den Wert von Neuigkeiten als bei zentralen Alles-oder-Nichts-Entscheidungen.

Leitendes Prinzip ist dabei die Förderung von Selbstverantwortung durch dezentrale Entscheidungsstrukturen, aber auch der Wettbewerb der besten Ideen durch ein gesundheitspolitisches Innovationslabor, bei dem unterschiedliche Mitspieler durchaus unterschiedliche Akzente setzen.

Darüber hinaus ist ein solches Chancen- und Risikomanagement von Gesundheitsinnovationen Ausdruck eines Denkens in Parametern der Klugheit. In Situationen der Ungewissheit- wie es im Bereich vielfältiger Innovationen mit ungewissem Erfolg der Fall ist- gehört es zur Klugheit der Urteilsbildung, auf zwei Kriterien zu achten: Dazu gehört es einerseits, nicht alles auf eine Karte zu setzen, sondern eher dem Prinzip „viele Blumen auf der Wiese“ zu folgen, um dann die am besten geeignete zu identifizieren. Andererseits geht es um den Tutiorismus, der moralisch verlangt, erst dann eine Entscheidung zu treffen, wenn negative Nebenwirkungen hinreichend klar erkannt und abgewogen werden können.

Handlungsempfehlungen für eine Leitlösung: Zugang zu Innovationen für alle

Von praktischer Bedeutung wird ein solches Verfahren der mehrstufigen Urteilsbildung über Innovationen im Gesundheitswesen dann, wenn es um Verteilungsgerechtigkeit im engeren Sinne, also um die Frage geht, ob alle oder nur einige Menschen Zugang zu Innovationen erhalten.

Wird über die klar definierte Stufenfolge von experimentellen Zulassungen bis hin zu einer endgültigen, flächendeckenden Zulassung herausgefiltert, welche Innovationen es verdienen, zügig der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt zu werden, dann ist damit gleichzeitig ein Weg skizziert, solche Innovationen nicht allein Selbstzahlern oder besonders teuer und aufwändig Versicherten zukommen zu lassen, sondern Innovation als geregelten Prozess in das öffentliche Gesundheitssystem einfließen zu lassen.

Dabei wird sich im Lauf der Zeit der Schwerpunkt der Ausgaben im Gesundheitswesen immer stärker in Richtung der Prävention von Gesundheitskrisen verschieben, weil eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass die Finanzierung präventiver Maßnahmen- zu denen auch die telemedizinische Überwachung, Diagnostik und Therapie gehören kann- im Endeffekt finanziell günstiger, aber auch qualitativ sinnvoller im Sinn der Bewahrung von Lebensqualität ist, als es eine Medizin der Krisenintervention je sein kann.