Ein flexibles Gesundheitssystem, je nach Kassenlage?

Ist das Gesundheitssystem nach Kassenlage flexibel mit Mehr- oder Minderleistung gestaltbar? Diese Frage stellt sich Ulrich Hemel vom IfS.

Ein kollektives und vom Ziel her solidarisches Gesundheitssystem erfordert Beiträge aller Beteiligten. Diese werden aber je nach Wirtschaftslage, nach Beschäftigungsquote und nach festgesetztem Erhebungssystem mehr oder weniger stark schwanken. Dies legt die Frage nahe, ob nicht auch die Ausgestaltung der Leistungsseite diesen Schwankungen Rechnung tragen sollte, also z.B. durch Mehr- oder Minderleistungen je nach Kassenlage.

Für diesen Gedanken spricht beispielsweise die Chance, die sich aus Zusatzleistungen ergibt, wenn die Wirtschaftsleistung im Land den Krankenkassen eine überdurchschnittlich gute Einnahmesituation beschert.

Leitgedanke: Kurzfristige und langfristige Finanzausstattung der Kassen

Die andere Seite besteht logischerweise im Risiko einer Leistungskürzung in Krisenzeiten.
Gedanklich ist dies einsichtig, doch bei der praktischen Durchführung lauern erhebliche Schwierigkeiten.

Im Vordergrund steht dabei das Entscheidungsproblem. Wer entscheidet über kurzfristige Anpassungsmaßnahmen? Der Gesundheitsminister? Die Krankenkassen? Die Berufsverbände der Ärzte und Apotheker? Patientenselbsthilfeorganisationen oder regionale Gesundheitsparlamente?

Die Vielzahl der organisierten und weniger organisierten Interessen im Gesundheitswesen erlauben es nicht ohne weiteres, ein allgemein akzeptables Leistungspaket für Mehr- oder Minderleistungen zu schnüren. Sollen Hausärzte auf dem Lande unterstützt werden? Hat die Einführung neuer Medikamente Vorrang? Soll Prävention stärker unterstützt werden? Ist nicht die Erneuerung der Krankenhäuser in Richtung effizienten Energiemanagements das Gebot der Stunde?

Zumindest der letzte Punkt lässt sich leicht abschmettern, da die Infrastruktur der Krankenhäuser Ländersache und nicht Sache der Krankenkassen ist. Das grundlegende Dilemma aber bleibt: Wer entscheidet für wen mit welchem Maß an Kompetenz?

Noch schwieriger wird die Entscheidung im Fall von Leistungskürzungen nach Kassenlage. Gerade weil es im Gesundheitswesen um das Schicksal von Millionen von Menschen geht, greift das Gesetz der großen Zahl und die Besonderheit der Logik politischer Entscheidungsprozesse.

Diese Logik politischer Entscheidungsprozesse spricht dafür, dass dort gekürzt wird, wo das Geschrei der Lobbyisten am geringsten ist. Zum Zuge kommt umgekehrt derjenige, der sich besonders laut in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen vermag. Dadurch gilt leider auch ein tendenziöses Gefälle politischer Meinungsbildung: Wer viel Geld zur Verfügung hat, ist leichter in der Lage, eine effiziente Lobbyarbeit zu organisieren als derjenige Interessenträger, der finanziell weniger betucht ist. Im Zweifelsfall ist es schließlich leichter, eine Lobby für die pharmazeutische Industrie als eine Lobby für Kinder zu organisieren, um nur ein Beispiel zu nennen.

Kernkriterien: Gerechtigkeit jenseits politischer Verteilungskämpfe organisieren und Verzicht auf kurzfristigen Aktionismus

Im Blick auf Kriterien der Gerechtigkeit wird es daher darauf ankommen, solchen Entscheidungskriterien zur Geltung zu verhelfen, die weit jenseits von politischen Verteilungskämpfen liegen.

Dies ist in keiner Weise leicht, aber auch nicht ganz unmöglich. So lässt sich beispielsweise die kurzfristige von der langfristigen Perspektive unterscheiden. Lobbyismus wirkt in aller Regel kurzfristig. Eine langfristige Betrachtung hat den Vorteil, dass kein Vertreter einer Lobby ganz genau weiß, was die Zukunft bringt, so dass er sich zwangsläufig von der Spezialbrille seiner Interessenträger etwas entfernen muss. Dabei ist die Frage, wie eine solche „langfristige Betrachtung“ zu organisieren ist, noch keineswegs entschieden.

Wenn Gerechtigkeit eher auf der langfristigen Perspektive zur Geltung gelangt, ergibt sich daraus auf jeden Fall die nahe liegende Lösung, auf eine Gesundheitspolitik nach Kassenlage zu verzichten. Verhindert wird dadurch nicht nur ein kurzfristiger Aktionismus, sondern auch eine Unruhe, die in aller Regel gerade im Gesundheitswesen eher kontraproduktiv wirkt: Nirgends wo stärker als im Bereich der eigenen Gesundheit sehnen wir uns nach Klarheit, Stabilität und Verlässlichkeit. Verunsicherung ist Gift für ein leistungsfähiges Gesundheitswesen.

Leitlösung: Ein flexibles Gesundheitssystem erfordert die Aufstellung prinzipiengestützter Leitplanken der Leistungserstattung im Rahmen eines nationalen Gesundheitsplans

Betrachtet man auf diese Weise die Fristigkeit der Festlegung von Maßnahmen der Gesundheitspolitik, ergibt sich unter Gerechtigkeitsaspekten ein ganz klarer Vorrang für langfristige Planungen.

Diese sind durch situative Anpassungen zu ergänzen, aber nicht zu ersetzen.

Eine langfristige Gesundheitsplanung kann beispielsweise in einen nationalen Gesundheitsplan münden, der für einen Fünf-Jahres-Zeitraum ausgelegt, der unter Mitwirkung aller Beteiligten erstellt und der von den einzelnen Krankenkassen und Regionen gemäß ihrer eigenen Situation ausgedeutet wird.

Ein solcher Masterplan lässt nämlich anders als kurzatmige Diskussionen die Gewichte und die Gewichtsverschiebungen im Gesundheitswesen erkennen. Soll Prävention gestärkt werden? Oder gewinnt die Intensivmedizin am Lebensende an Bedeutung? Wo beginnt die Allokation von Maßnahmen im Gesundheitswesen zu greifen, wo ist sie fehl am Platz? Welcher Raum wird für medizinische, pharmazeutische, medizintechnische und pflegerische Innovationen vorgesehen?

In einem demokratischen Gemeinwesen müsste die Diskussion zu einem solchen nationalen Gesundheitsplan öffentlich geführt werden. Da Gesundheit jeden einzelnen betrifft, darf von einem entsprechenden politischen Interesse ausgegangen werden. Darüber hinaus ermöglicht die Erstellung eines nationalen Gesundheitsplans besser als bisher die Einbeziehung wissenschaftlicher Erkenntnisse, etwa über die zunehmende oder abnehmende Verbreitung von Krankheiten.